Es ist ein weiter Weg von der ersten Inspiration bis zum fertigen Roman.

Die ersten Ideen zu Tief ist der See kamen mir im Februar 2020 in Wien. Nach einer scheußlichen Nacht in einer Horror-Pension mit einem mehrere Tage alten, angenagten Käsebrot in der Schublade des Nachtschranks (hiesig Bettkasten genannt) und einem Badezimmer ohne Licht und Toilettenpapier, war ich gerade glücklich umgezogen in ein Hotel unweit vom Naschmarkt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich vierzehn Monate lang intensiv an einer Road Novel gearbeitet über die Protagonistin Margret Bose, die Ende der sechziger Jahre fluchtartig Hamburg verlässt und sich auf eine zweitägige Zugreise nach Toulon begibt. Vierzehn Monate hatte ich mich im Leben dieser Protagonistin herumgetrieben, ihre geheimsten Gedanken belauscht, ihre unverständlichsten Schlussfolgerungen nachvollzogen und mit ihr eine Zigarette nach der anderen geraucht. Diese Geschichte war rund, sie war fertig und es war an der Zeit, sie sich für eine Weile selbst zu überlassen – Zeit zum Reifen, zum Abhängen, Aroma entwickeln. 

In Wien hatte ich einen Off-Day, keine Probe, kein Konzert, und ich hatte Sehnsucht nach dem Schreiben. Ich lag ausgestreckt auf dem bequemen Bett, lauschte auf die Geräusche in den langen Fluren des Hotels, hörte den Nachbarn im Nebenzimmer beim Fernsehen zu. Meine Gedanken streckten und reckten sich in alle Richtungen auf der Suche nach Halt, nach etwas Konkretem. Plötzlich spürte ich den unbändigen Drang über einen Mann zu schreiben, und zwar aus der Perspektive eben dieses Mannes. 

Zack – in meinem Hirn tauchte Paul Harterekter auf. Ich lachte laut über diesen abstrusen Namen, der sich exakt nach dem anhörte, was dieser merkwürdige Mensch nach außen vorgab zu sein. 

Paul Harterekter. Mitte dreißig. London. 

Wir lernen uns also kennen in der Bar in White Chapel, in der der Broker nach Feierabend  gerne abhängt und sich betrinkt. Aus Zorn über seine Unfähigkeit im Geschäftsleben und aus Scham eben genau darüber beginnt er eine entfesselte Schlägerei mit dem jungen Mann hinter der Bar. Er prügelt ihn bewusstlos, schlägt immer weiter auf den reglos am Boden Liegenden ein. Einige Gäste fassen sich ein Herz, zerren ihn weg von dem völlig zertrümmerten Gesicht, von dem malträtierten Körper. Sie rufen die Polizei, die verhaftet ihn. Paul randaliert weiter. Deshalb verbringt er die Nacht in einer Ausnüchterungszelle, bis ihn am nächsten morgen der Anwalt seiner äußerst wohlsituierten Ehefrau herausholt und ihm eröffnet, dass sie sich von ihm scheiden lassen wird. 

Ihr verdankt er seine Position. Sie fängt seine Verluste finanziell auf. Er wäre ruiniert. 

An diesem Tag macht Harterekter den entscheidenden Schritt, der am Ende sein eigenes Schicksal besiegelt: er beauftragt den Mord an seiner Frau.

Und an diesem Tag lernte ich Franny kennen, die Protagonistin von Tief ist der See.

Espresso in Wien